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29. Juli 2016

OptiMedium Juli 2016

Was hat es mit dem amerikanischen Konzept der Open Notes auf sich? Wie können sozial benachteiligte Großstadt-Regionen von einer Integrierten Versorgung profitieren? Welche Erfahrungen aus der Industrie lassen sich auf das Gesundheitswesen übertragen? Und welche Erkenntnisse brachte unser Parlamentarischer Abend in Berlin?


Aus Wissenschaft und Forschung

Open Notes: Mehr Patientenaktivierung dank Datentransparenz

Viele Patienten wünschen sich elektronischen Zugriff auf ihre medizinischen Daten, z. B. auf Befunde, Laborwerte, Medikationen oder Karteikarten-Einträge des Arztes. Sie wollen besser über ihren Gesundheitszustand informiert sein. Und auch aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ist der Zugang zu den eigenen Daten sinnvoll, um die Eigenverantwortlichkeit und das Selbstmanagement – insbesondere bei chronisch kranken Patienten – zu stärken. In der Praxis ist dies in Deutschland allerdings noch nicht möglich. In den USA dagegen gibt es seit längerer Zeit das Projekt Open Notes. Es zeigt, wie sich ein elektronischer Zugang von Patienten auf ihre Daten umsetzen lässt und welche Ergebnisse dabei herauskommen.

Die OptiMedis AG und die Universität Witten/Herdecke haben gemeinsam mit weiteren Konsortial- und Kooperationspartnern wie IT- und Telematikunternehmen, Ärztenetzen, einer Kassenärztlichen Vereinigung, Patientenorganisationen und Industriepartnern einen Antrag an den Innovationsfonds gestellt, um die Ideen des Open Notes-Projektes auch in Deutschland umzusetzen – hier unter dem Titel MyDoks.

Professor Dr. med. Tobias Esch, Lehrstuhl Integrierte Gesundheitsversorgung und -förderung an der Universität Witten/Herdecke, hat das Open Notes-Projekt in den USA wissenschaftlich begleitet. Wir haben ihm einige Fragen gestellt.

Prof. Dr. med. Tobias EschProf. Dr. med. Tobias EschHerr Professor Esch, worum geht es im Kern bei Open Notes?

Open Notes ist ein Projekt, bei dem Ärzte ihren Patienten Zugriff auf die Dokumentation ihres Arztbesuchs (Karteikarten-Einträge = Notes) ermöglichen. Im Kern geht es um Transparenz und die Nutzung neuer digitaler Möglichkeiten eines persönlichen Austausches zur Ergänzung – und nicht als Alternative – zur physischen Arzt-Patienten-Kommunikation. Dazu werden in den USA sichere Internet-Portale, sogenannte Patient Portals, eingebunden, die, ähnlich wie beim Online-Banking, einen personifizierten Zugang zur Datenübermittlung ermöglichen. So ist es technisch leichter für Patienten, die eigenen Gesundheitsdaten einzusehen.

Solche Online-Portale verbreiten sich gerade schnell. Mehr als acht Millionen Patienten sind in den USA schon registriert. Dort haben sie auch individuellen Zugriff auf die von ihren Ärzten für sie elektronisch bereitgestellten persönlichen Dokumente. Das Ganze begann zunächst als eine Demonstrations- und Evaluationsstudie im Jahr 2010 an der Harvard Medical School und ist mittlerweile zu ist einer schnell wachsenden nationalen Bewegung geworden.

Welche Ergebnisse konnten Sie in den USA beobachten?

Die Mehrzahl der teilnehmenden Patienten unserer initialen Studie nutzte die Möglichkeit. Zwei Drittel der Patienten berichteten über potenziell klinisch relevante Vorteile. 99 Prozent der Patienten wollten die Praxis nach Ende der Studie fortsetzen, 85 Prozent gaben an, dass das Angebot für sie in Zukunft bei der Wahl ihres Arztes wichtig wäre.

Schaut man insbesondere auf die regelmäßigen Nutzer, das heißt, Patienten mit häufigen Arztbesuchen, die häufig die Einträge lesen, zeigt sich, dass sie insgesamt sehr positive Erfahrungen gemacht haben. Sie berichten über Verbesserungen beim Verstehen ihrer Gesundheitsinformationen, eine verbesserte Arzt-Patienten-Beziehung, bessere Qualität der Versorgung sowie bessere Fähigkeiten zur Selbstfürsorge. Insgesamt konnte festgestellt werden, dass sich die Patientenaktivierung deutlich verbessert hatte. Auch zeigten sich ein höheres Vertrauen zum Arzt, ein verbessertes Medikamenten-Management (Adhärenz) und ein stärkeres Gefühl der Kontrolle.

Vielleicht am auffälligsten aber war das Ergebnis, dass sich kein Arzt nach Ablauf des Studienzeitraums dafür entschied, die Open Notes-Praxis wieder zu beenden.

Welche Faktoren sind Ihrer Meinung nach für die Übertragbarkeit des Konzeptes auf Deutschland relevant?

Das Gewähren von Einblick in die eigenen Gesundheitsinformationen kann unter anderem das Engagement und das Selbstmanagement verstärken. Auch bei uns in Deutschland sind die Patienten daran interessiert, mehr zu erfahren und aktiver eingebunden zu werden – warum dann nicht schon bei der Erstellung bzw. Bereitstellung ihrer medizinischen Aufzeichnungen? Da sich die Transparenz im Umgang mit medizinischen Dokumenten gegenwärtig überall ausbreitet, ist es wichtig, ein besseres Verständnis für Vor- und Nachteile zu gewinnen – für Patienten und Ärzte gleichermaßen –, sowie Zielgruppen zu charakterisieren, die möglicherweise unterschiedliche Formen der Übermittlung erfordern. So müssen wir noch genauer untersuchen, was diese Praxis beispielsweise im Bereich der psychischen Gesundheit bedeutet. Aber grundsätzlich gilt: Die Patienten, hüben wie drüben, suchen sich Gesundheitsinformationen ohnehin irgendwoher – warum Ihnen dann nicht gleich die Originale zeigen, d.h. ihre eigenen Informationen, von ihrem behandelnden Arzt für den individuellen Fall verfasst?

In Zeiten der zunehmenden Digitalisierung – praktisch jeder hat ja heute eine E-Mail-Adresse und nutzt das Internet – ist es technisch kein Problem, auch die Patienten mit an den Tisch derer zu holen, die Gesundheitsinformationen über ihn haben und einsehen können.

Natürlich müssen auch bei uns Fragen zur Datensicherheit und mögliche Sorgen über einen „gläsernen Patienten“ oder einen „gläsernen Arzt“ ernst genommen werden. Auch die Frage nach zusätzlicher Arbeitsbelastung aufseiten der Ärzte. Aber unsere bisherigen Ergebnisse machen uns zuversichtlich: Die Belastung der Ärzte hat nicht zugenommen, wohl aber die Effizienz bzw. Zielgerichtetheit der Arztbesuche und das Verständnis aufseiten der Patienten. Und das könnte sich auch bei uns zeigen – man muss es eben erst einmal ausprobieren und wissenschaftlich evaluieren.

Kommentar
Dr. Oliver Gröne, Head of Research & Development, und verantwortlich bei OptiMedis für die Umsetzung von MyDoks

Die Ergebnisse der Open Notes Bewegung in den USA sind beeindruckend, sowohl was die positiven Effekte auf die Arzt-Patienten-Beziehung und klinische Ergebnisindikatoren angeht als auch die schnelle Ausweitung des Zugangs zu Open Notes von 50.000 Patienten im Jahr 2010 auf acht Millionen in 2015.

Ähnliche Projekte bestehen auch in vielen anderen Ländern: In Österreich beispielsweise ist der Zugang des Patienten zur elektronischen Patientenakte bereits umgesetzt, in England ist das Ziel, bis 2018 allen Patienten Zugriff auf die elektronische Akte der Hausarztpraxen zu geben und in einigen Staaten Australiens wird automatisch für jeden Patienten ein Zugang zum Patientenportal erstellt.

Einer Umsetzung in Deutschland steht nichts entgegen: Drei Viertel aller Patienten wünschen sich einen Zugang zu ihrer Akte, die Rechtsgrundlage zur Einsichtnahme ist bereits im § 630g Abs. 1 S. 1 BGB verankert, ein sicherer und datenschutzrechtkonformer Zugang zur Akte kann sichergestellt werden und die Software- und Industrieanbieter halten Lösungen für Patientenportale parat.

Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Partnern bedanken, die unseren Antrag für das MyDoks-Projekt für den Innovationsfonds unterstützt haben.

Literaturhinweise

Esch T, Mejilla R, Anselmo M et al. Engaging patients through OpenNotes: an evaluation using mixed methods. BMJ Open 2016; 6 (1): e010034.  doi: 10.1136/bmjopen-2015-010034

Wright E, Darer J, Tang X et al. Sharing Physician Notes Through an Electronic Portal is Associated With Improved Medication Adherence: Quasi-Experimental Study. J Med Internet Res 2015; 17 (10): e226